an dingen kratzen, spuren vertiefen

Anfang 1945 führte ein Todesmarsch durch den Ortsteil Erdmannsdorf. Bei diesem Todesmarsch, der am 9. Februar 1945 vom Außenlager des KZ Groß-Rosen aus Kittlitztreben (heutiges Polen, Region Niederschlesien) startete und nach Buchenwald führte wurden ca. 1.200 bis 1.800 jüdische KZ-Häftlinge, durch die SS-Schergen zu diesem Todesmarsch gezwungen. Durch den Ort Erdmannsdorf wurden 890 Häftlinge getrieben und sie „übernachteten“ dort vom 13. auf den 14. März 1945. Die Zahl, der 890 KZ-Häftlinge ist durch eine Anzeige gegenüber der Polizei nach dem 8. Mai 1945 aus Langhennersdorf belegt. Dort „übernachteten“ die Häftlinge am 12. März, somit am Tag bevor sie weiter nach Erdmannsdorf marschieren mussten. „Durch den kleinen Ort Langhennersdorf (…) wurden bei dem Rückzug der Deutschen aus Schlesien im März 1945 900 jüdische Gefangene gebracht. 5 dieser Juden starben an Ort und Stelle durch völlige Entkräftung, 4 wurden durch Genickschuss erledigt, weil sie sich Haferkörner aus der Scheune eines großen Gutsbesitzers holten, um ihren Hunger zu stillen. 1 Gefangener hängte sich auf. Ein zur Bewachungsmannschaft gehörender Soldat erklärte ortsansässigen Bauern, dass er den Auftrag hätte, am Bestimmungsort Weimar keine Gefangenen mehr zu haben. Der damalige faschistische Bürgermeister, Paul W. erklärte am Telefon dem Bürgermeister eines benachbarten Dorfes, daß für diese Schweine die Kugel noch viel zu schade sei“. (Zitiert nach Aufzeichnungen von C. Schmidt aus der Quelle: SHStA Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge Bestand 11391 Sign. 994, Ermittlung der Gräber von Häftlingen der faschistischen Konzentrationslager, S. 55). Dass dieser Todesmarsch auch durch Augustusburg führte ist nicht gesichert, da der gesamte Todesmarsch durch die Täler führte wäre der Umweg über Augustusburg unlogisch (Vgl. Dokument 1 des Arolson Archivs). Da jedoch so vieles unlogisch war könnte es sein dass die SS die Häftlinge auch den Berg hinauf nach Augustusburg trieb.

In Erdmannsdorf wurden die KZ-Häftlinge – laut eines befragten Zeitzeugens, der sich auf Augenzeugen beruft – in Scheunen (Scheune ehemaliges Rittergut, heute Standort des Blockhaus Cafes und Scheune des ehemaligen Guts der Familie Zschocke) untergebracht. Der ehemalige Pfarrer W. beruft sich auf Augenzeugen und schreibt, dass die Häftlinge vermutlich im Hof „verpflegt“ wurden, die „Übernachtung“ aber in einer heute nicht mehr existenten Scheune des Schlosses bzw. Ritterguts stattfand.

Zeitzeuginnen Interview

von Felix Forsbach | mit Helga Bierfreund und Gudrun Reichel (08/2021)

In Erdmannsdorf wurden vier der während des Todesmarschs ermordeten Juden begraben. Der genaue Grund für ihre Ermordung ist nicht belegt. „Einige (von Pfarrer W. befragte Augenzeugen aus Erdmannsdorf) wollten wissen: daß Häftlinge – aus begreiflichen Gründen – am Wegesrand ihre Notdurft verrichtet hätten“ und daraufhin exekutiert wurden. In der Kirchenchronik ist als Todesursache „wahrscheinlich Entkräftung“ aufgeführt. Dieser Todesgrund ist wahrscheinlicher. Die vier Männer wurden notdürftig in 50 Zentimeter Tiefe auf dem Friedhof verscharrt und später umgebettet und begraben. In Erinnerung daran ist heute ein Gedenkstein auf dem Friedhof in Erdmannsdorf aufgestellt. Die Evakuierung des Außenlagers Kittlitztreben fand am 9. Februar 1945 statt und das Konzentrationslager Groß-Rosen mit seinen Außenlagern wurde zwei Tage nachdem Start des Todesmarschs von den Alliierten der Roten Armee befreit. Die KZ-Häftlinge mussten 44 Tage ca. 325 km quer durch Sachsen marschieren (die Strecke des  Todesmarschs 37 – Bezeichnung nach Brenner et. al. – ist sehr genau recherchiert siehe Dokument 2).

Der Todesmarsch führte – laut Dokument 2 – durch die Orte: Ottilienhütte, Neundorf, NDR Schönfeld, Wiesau, Aschitzau, Thommendorf, Neu Thommendorf, Rabenhort, Karlsdorf, Geradorf, Hennersdorf, Kieslingswalde, Rachenau, Ober Biclau, Schützenhaim, Langenau, Penzig, Serche, Görlitz, Reusschwalde, Holtendorf, Wengelsdorf, Schops, Glassen, Lautitz, Nostlitz, Maltitz, Ketitz, Nechern, Wurschen, Neupurschwitz, Stiebitz, Kowitz, Erlösang, Gaussig, Naundorf, Tröbigau, Kl. Trebitz, Geldbusch, Frankenthal, Bering, Wachau, Liegau, Königswalde, Radebeul, Grünbuch, Helligsdorf, Blankenstein, Neukirchen, Wolfsgrün, Krummhennersdorf, Lessnitz, Kl. Waltersdorf, Kl. Schrima, Linde, Ober Reichenbach, Geblenz, Lietzde, Hohenfichte, Augustusburg, Erdmannsdorf, Ober Hermsdorf, Reichenhain, Narlersdorf, Stelzendorf, Seifertsdorf, Kirchberg, Erlbach, Gorsdorf, Hohndorf, Schneppendorf, Grossen, Nieder Hohndorf, Königswalde, Langenbernsdorf, Ober Albertsdorf, Seelingstadt, Wolfersdorf, Klein Falke, Niebrs, Liebschwitz, Röppisch, Gorlitzsch, Weissig, Durrenebersdorf, …/… (Hervorhebungen F.F.)

Bei der Ankunft in Buchenwald am 4. April 1945 wurden noch 746 Häftlinge gezählt. Die Anzahl der Mordopfer dieses Todesmarsches (wie das Dokument 3 zeigt) liegt bei mindestens 71 + ??? (vergleiche dazu Dokument 4). Da während des Todesmarsches verschiedene andere Märsche und Bahntransporte gekreuzt wurden liegt die Vermutung nahe, dass zum Teil auch Häftlinge oder Häftlingsgruppen anderen Transporten und Todesmärschen zugeordnet wurden.

Zeitzeugen Interview

von Felix Forsbach | Interview der Jungen Pioniere und Frau Heinz mit Christian Zschocke (rekonstruiertes Tonband des Schuljahres 85/85 08/2021)

Todesmärsche wurden, neben Deportationen mit der Bahn, vor allem im letzten Kriegsjahr 1945 durchgeführt und firmierten lange Zeit unter dem Euphemismus „Evakuierung der KZs“. Diese Todesmärsche sollten die Spuren der Massenmorde und Folterungen, die in den KZs im braunen Herz des Deutschen Reichs und dessen Rändern begangen wurden, verwischen. So wurden die Häftlinge auf den Todesmärschen in Konzentrationslager, die weiter im deutschen Kerngebiet lagen getrieben. Dort sollten sie für das letzte militärische Aufgebot der deutschen Nazis als Zwangsarbeiter in der auf Hochtouren laufenden Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Bei diesen Todesmärschen und Bahndeportationen waren Morde einkalkuliert und wurden, wie das Zitat aus Langhennersdorf belegt, forciert.

Ein Zeitzeuge des Todesmarsches, der durch Erdmannsdorf führte, ist der Künstler Fishel Rabinowicz, der in der Sendung „Zeuge der Zeit“ (BR) von Minute 21:24 bis 29:20 von dem Grauen des Todesmarsches erzählt.

Unvorstellbar ist das Ausmaß des Grauens. Es gibt nur oberflächliche Spuren dieser Verbrechen. In diesen Spuren muss gekratzt werden, damit das Moos und die Zeit entfernt werden. An den Spuren muss gekratzt werden damit sie vertieft werden. In Erdmannsdorf kratzen heißt sich mit dem 13. März 1945 auseinanderzusetzen. Im Grau der schwarzweißen Negativ-Fotografie wird da etwas festgeschrieben.

Ich danke Christine Schmidt, der Atlas-Gruppe, dem Atlas-Projekt, Walid Raad, WG Sebald, Regina Schmeken, Gudrun Reichel, Helga Bierfreund, Katrin Hoffmann, Familie Heinz…

„an dingen kratzen, spuren vertiefen“ 2021 gefundener Negativ-Film (Orwo Pan 100), Hier werden 16 von 37 Fotografien, des vollständig vorhandenen Films archiviert.

(1) Dokument 1 – Arolson-Archiv

(2) Dokument 2 – Karte Evakuierung und Todesmärsche KZ Groß-Rosen [aus Brenner et. al.: NS-Terror und Verfolgung in Sachsen.]

(3) Dokument 3 – Seite 538f aus Brenner et. al.: NS-Terror und Verfolgung in Sachsen

(4) Orte, Morde des Todesmarschs 37:

9 Tote in Adorf (Erzgebirge); 1 Toter Altendorf; 4 Tote Erdmannsdorf; 6 Tote Erlbach-Kirchberg; 5 Tote Kauern; 16 Tote Krummhennersdorf; 9 Tote Langhennersdorf; 9 Tote Lauterbach; 5 Tote Mannichswalde; 1 Toter Milda; 6 Tote Neukirchen bei Reinsberg; ? Tote Ottendorf (Thüringen); ? Tote Weißbach (Erzgebirge)

[aus: Hans Brenner et. al.: NS-Terror und Verfolgung in Sachsen]